Ute Klein im Palais Bleu
7.3. - 17.4.2010
Flecken. Schichten. Segmentierungen. Wege. Bahnen. Routen. Verzweigungen. Verknotungen. Verkettungen. Diese Stichworte mögen einen ersten und flüchtigen Eindruck über Ute Kleins Werkschaffen vermitteln.
Eine weitere Annäherung möchte ich über den philosophischen Begriff des Rhizoms von Gilles Deleuze und Félix Guattari aus den 1970er-Jahren vorschlagen.[1] Das Rhizom ist eigentlich ein Lehnwort aus der Botanik. So zählen zum Beispiel die Ingwerwurzel, das Maiglöckchen, die Erdbeere, Windengewächse und viele Gräser zu diesem Typus. Auch ein Tierbau funktioniert als rhizomorphes Gefüge: als Wohnung, Vorratslager, Versteck und später gar als verlassene Behausung. Ein Rhizom ist ein Wurzelgewächs mit waagrecht oder senkrecht wachsenden Sprossachsen, die sowohl ober- als auch unterirdisch wuchern. Ohne erkennbare Ordnung kann das Rhizom mannigfache Formen annehmen, von der feinsten «Verästelung und Ausbreitung» in alle Richtungen bis zur groben «Verdichtung in Knollen und Knötchen».[2] Letztere dienen teils dem Weiterwachsen, teils der Ausbildung von Laub- und Blütentrieben. Rhizome wachsen an ihrer Spitze endlos weiter, während ältere Teile allmählich absterben – im stetigen Kreislauf von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Momentane ist ebenso Gesamtwerk, wie das Vergangene und Zukünftige.
Ein Rhizom lässt sich «an jeder beliebigen Stelle»[3] unterbrechen oder beenden, erläutern Deleuze/Guattari weiter. Es setzt sich ungehindert entlang einer anderen Linie fort und bildet sich weiter. Jeder Punkt eines Rhizoms kann sich nach Belieben mit einem anderen Punkt in Verbindung setzen. Dabei werden Punkte zu Linien, stets im Fluss der Zeit.[4] Die Verzweigungen und Verknotungen vervielfachen sich. Es entstehen neue rhizomorphe Strukturen ganz nach dem «Prinzip der Vielheit»[5]. Im Rhizom kommen weder die «Nachahmung» noch die «Ähnlichkeit» vor. Jede «Segmentierungslinie» geht ihren eigenen Weg, trifft auf andere, paart sich und teilt sich wieder, immer aber dem Fluchtweg des Wasserverlaufs folgend. Dieses Werden und Vergehen, Zusammentreffen und Trennen, Verdichten und Verdünnen, Spriessen und Verkümmern wechselt sich in unterschiedlicher Intensität ab.
Das Rhizom hat «viele Eingänge»[6] und ebensolche Ausgänge. Die Karte ist nach Deleuze/Guattari offen und unendlich modifizierbar.[7] Sie kann in verschiedenen Richtungen und Dimensionen gelesen werden. Ob man sich durch den Seiteneingang oder Haupteingang begibt, ist gleichwertig. Ein Rhizom ist allein durch das Kursieren und Zirkulieren der Zustände definiert. Im Rhizom geht es um den Lauf der Dinge.
Ute Klein giesst Farbe auf Papier. Diese Giessungen dienen als Basis. Eine kleine Auswahl davon zeigt die Ausstellung im Gemeinschaftsraum des Palais Bleu. Die von der Künstlerin vorbereitete Farbe ist sehr dünnflüssig. Aus einem Behälter wird diese von einer bestimmten Höhe auf ein am Boden liegendes Blatt Papier gegossen. Durch Anheben und Kippen des Papiers wird der Lauf der Farbe zusätzlich beschleunigt. Dieses Verfahren gleicht einer Geste. Die flüssige Farbsauce prallt auf dem Papier auf und verteilt sich, sich selbst überlassen und den physikalischen Gesetzen gemäss über die weisse Fläche. Entspricht die Schüttung und die aus ihr entstandenen Form der Vorstellung der Künstlerin, wird die Farbe dem Trocknungsprozess überlassen. Sie prägt sich ins Papier ein.
Ute Kleins Arbeiten leben vom Lauf der Farbe. Ihr künstlerisches Verfahren hat gleichfalls mit Werden und Vergehen zu tun, wenn sie die flüssige Farbe auf das Papier schüttet und diese durch Bewegung des Papiers ihrem Flusslauf überlässt. Die Farbe fliesst entlang ihrer möglichen Fluchtlinie, bricht aus und flieht. Es entstehen neue Wasserscheiden und Flussverläufe. Manche gar treffen sich wieder und fliessen zusammen weiter oder vermengen sich zu einem See. Der Lauf des Wassers hat seinen eigenen Rhythmus, sein eigener Gang. Es kommt zu Überlagerungen und Richtungswechseln, wenn Ute Klein auf die angetrocknete Schicht einen weiteren Farbfluss laufen lässt. Wo Wasser auf Wasser trifft, entsteht eine neue Farbe, nicht zwingend aber ein neuer Flussweg oder gar ein neues Leben.
Die Farbflüsse von Ute Klein sind einem stetigen Lebenskreislauf unterstellt, indem sich das Werden im Sinn von «Farbe ausgiessen» und das Vergehen von «Farbe trocknen» erklärt. Das Ausgiessen erschafft und das Trocknen beendet Leben – beides dem unablässigen Wandel unterstellt. Letzterer Prozess macht sichtbar, dass der Fluss selbst voll von Leben ist. Je nach der Konsistenz und Kohäsion der Farbe gestaltet sich ihre Binnenstruktur beim Trocknungsprozess. Die Farbe hinterlässt Spuren des Lebens. An der Oberfläche spielen sich Naturphänomene ab, die dem Betrachter einen Blick in ein geheimnisvolles, pulsierendes Leben gewahren. Es sind Konstellationen mit scheinbar unergründlichen Tiefen, für die wir keine Benennung wissen. Der Fluss wird zur metaphorischen Seelenlandschaft, zu einem visuell erfahrbaren Assoziationsgeflecht, indem sich Berge und Täler, dichte Wälder und weite Ebenen abzeichnen.
Diese Farbflüsse bilden den Fundus für Ute Kleins jüngste Wandarbeiten für Le-lieu. Mit Hilfe von medialen Daten und Architekturplänen rechnet sie die ausgewählte Arbeit auf ihren zukünftigen Standort um. Das Mass der Vergrösserung wird der jeweiligen räumlichen Situation angepasst. Am Ende wird mit der Projektion des Bildes auf die Wand gearbeitet, wonach Ute Klein mit Farbe und Roller den Fluss entstehen lässt, indem sie ihn entlang der projizierten Fläche nachmalt. Diesen Vorgang bezeichnet die Künstlerin als «return», als Umkehrung oder Rückführung sozusagen. Die Farbe wird nicht mehr ihrem eigenwilligen Lauf überlassen, sie wird vielmehr geführt und gelenkt. Sie wechselt von der aktiven in die passive Rolle. Der Farbfluss wird zum gemalten Farbfleck.
Mit den permanenten Wandarbeiten von Ute Klein finden ein Richtungswechsel und eine Verschiebung, aber auch ein Umdenken und eine Umdeutung statt. Es wechselt von der Horizontalen in die Vertikale. Die Wand löst das Papier als ehemaligen Bildträger der Farbflüsse ab. Die statische Architektonik der Wand wechselt das Papier als mobiler und handlicher Träger ab. Die Fragilität des Papiers, die pflanzlichen Fasern des dünnen Substrats, stehen in komplementärem Gegensatz zu der festen Konstruktion der Wand.
Ute Kleins Raumeingriffe befinden sich an neuralgisch wichtigen Orten in diesem Haus, das zwischenzeitlich auch als Kranken- und Pflegeheim genutzt wurde. Ihre Werke sind im seitlichen Eingang, im zentralen Treppenhaus und im Gemeinschaftsraum zu entdecken. Sie markieren Ein- und Ausgänge, Treffpunkte und Austauschorte, Übergänge zwischen aussen und innen, zwischen den privaten und öffentlichen Räumen, zwischen sozialen und medialen Netzwerken. Es sind Platzierungen, die stets dem Lauf und der Zeit der Dinge ausgesetzt sind.
Der Betrachter wird zum Läufer, wenn er sich durch die Räumlichkeiten des Palais Bleu bewegt. Wir müssen in Bewegung sein, wenn wir den Farbflüssen folgen wollen. Wir partizipieren am Fluss und werden beim Betrachten von Ute Kleins Arbeiten ein wenig selbst zum Rhizom.
Nicole Seeberger, März 2010
[1] Gilles Deleuze, Félix Guattari, Rhizom, aus dem Franz. v. Dagmar Berger/Clemens-Carl Haerle/Helma Konyen u. a., Berlin 1977 (orig. Rhizome. Introduction, Paris 1976).
[2] Ebd., S. 11–17.
[3] Ebd., S. 16.
[4] Ebd., S. 34.
[5] Ebd., S. 13.
[6] Ebd., S. 21/35.
[7] Ebd.
- Tagblatt 13.4.2010 / Ursula Badrutt Schoch (PDF, 471.3 KB)